Diese Worte sind für Willi, Axel, Jack, Susi, Michi, Elli, Helge, Marion, Maren, Detlef, Frank, Ulf, Kalli, Karen, Uwe, Martin, Klaus, Thomas, Gini, Sandra, Kai, Ute, Nils, Werner, Biggi, Brady, Christoph und alle anderen, die mich begleitet haben.
Ich bin jetzt 25 Jahre Mitglied eines Vereins, mit Urkunde und Ehrung und allem, was dazugehört. Eigentlich mag ich Vereine nicht besonders – aber dieser Verein war mehr für mich als Vereinsmeierei, Verpflichtungen und all der anderen komischen Assoziationen, die mit Vereinsleben eben einhergehen.
Ich habe jetzt ein gutes halbes Jahr damit zugebracht, auf meine Zeit im Kanuverein zurückzublicken. Mir ist bewusst geworden, dass der Kanuverein Stade das Setting meiner ganz persönlichen Coming Of Age Geschichte ist. Genau wie in „Good Bye Lenin“ war der Kanuverein meine eigene kleine Parallelwelt, in der ich sein konnte, wer ich war; die Abenteuer erleben konnte, nach denen ich mich sehnte. Genau wie im Film war ich umgeben von Menschen, die sich um mich kümmerten und auf mich Acht gaben - (meistens) ohne mir meine Freiheit nehmen zu wollen. Ja! Genauso groß ist meine Erinnerung an diese 25 Jahre - es geht um nichts weniger als ums Erwachsen werden, um Freiheit und um viele Erste Male.
Ich bin 1998 in den Kanuverein eingetreten – ich war damals 13 Jahre alt und habe mich selbst irgendwo zwischen HipHopper, Punk und Zecke eingeordnet. Ich habe am liebsten Troyer getragen und eine Mütze… immer diese Mütze! Ich hatte eine wilde Frisur und bunte Haare. Im Jahr zuvor war ich das erste Mal mit meinem frisch getrennten Papa paddeln, der erste Urlaub allein mit ihm, das erste Mal im Kajak. Witzigerweise hatte Papa die Boote im Kanuverein Stade organisiert, da draußen in Stadersand, bei der Bunkerstation „weißt du?!“.
Peter B. und er kannten sich entfernt und so stellte uns dieser, für mich fremde und trotzdem liebe Mensch eben seine beiden Boote für einen ersten Abenteuerurlaub zur Verfügung – es ging an die Müritz. Gott war die Müritz damals noch wild und aufregend für mich.
Und aufregend wurde es dann richtig – ich habe das Kentertraining geliebt, die Touren auf den Kleinflüssen und natürlich Mama Elbe! Heute verstehe ich, wie sehr mir in dieser Zeit unter die Arme gegriffen wurde und wie bemüht einige Menschen um mich und meinen besten Freund Jack waren. Willi holte uns regelmäßig zum Training am Dienstag oder zum Vereinsabend am Donnerstag ab, wie selbstverständlich. Klaus P. wurde es nicht müde, das Kentertraining zu organisieren, trotz zuweilen mittelmäßiger Beteiligung. Gar nicht so schlecht dieses Vereinsleben.
„Ist Rolf da?“ – unzählige Male habe ich vor Paddeltouren am Wochenende diesen Satz stimmbrüchig ins Festnetztelefon geknarzt, um Willi zu Hause bei seinen Eltern zu erreichen und kommende Abenteuer zu besprechen. Gar nicht schlecht so Vereinskameraden, die sich kümmern und helfen. Meine Eltern haben schnell gemerkt, dass ich im Kanuverein gut aufgehoben bin, sie haben gelernt, den Vereinskameraden zu vertrauen und angefangen, mir immer mehr Freiheiten einzuräumen, die ich großzügig ausgenutzt habe.
„Jugendfahrt“ nach Pagensand – heute weiß ich es, ich habe euch entlarvt…. Jack und ich waren der Vorwand, um an dieser Traditionsfahrt festhalten zu dürfen! Als gefühlt einzige aktive Jugendliche im Verein war es für uns nicht auf Anhieb klar, warum es 25 Erwachsene zur Betreuung auf der schönsten Insel der Niederelbe braucht. Für uns war es das erste Mal „wild zelten“ – Abenteuer direkt vor der Haustür. Heute ist mir klar: Pagensand ist einfach geil und wahrscheinlich eines der größten Geschenke, die mir der Verein jemals machen konnte. Zugang zum Paradies, sozusagen! Die Umfirmierung zu „Zelt- und Grill-Fahrt“ war trotzdem konsequent. Pagensand ist bis heute ein Ort, an den ich zurückkehre. Diesen wahnsinnigen, wilden Abenteuer- und Freiheitsrausch spüre ich sofort bei Erreichen der Südspitze der Insel – in jeder Zelle meines Körpers. Gar nicht schlecht, diese Geselligkeit im Verein.
Jetzt habe ich mir meine eigene Überleitung aufs Silbertablett geschrieben – denn wenn der Kanuverein für mich eines bedeutet hat, dann war es die Geselligkeit! Abgesehen davon, standen natürlich die sportlichen Höchstleistungen immer bei allen im Vordergrund.
Ob donnerstags im kleinen: Nachdem der offizielle Teil im Jugendraum in Stadersand abgeschlossen war (auch schon gesellig), ging es fast geschlossen ins Coffeehus in die Stadt, auf ein Weißbier oder einen kleinen Snack, oder beides. Hier konnte ich den Heldengeschichten der älteren Semester lauschen: von der wilden smaragdenen Soca in Slovenien, von der endlos langen Donau, vom Inselhopping in der Dänischen Südsee und vom Brandungspaddeln im El Arenal Dänemarks, Lökken.
Ich bin fest davon überzeugt, dass die Erzählungen von Kai, Ute, Willi, Frank, Helge, Detlef, Marion und allen anderen vor meinem inneren Auge zu Heldengeschichten wurden. So wurde ich langsam von dieser „Paddelei“ komplett infiziert.
Im Großen wurde Geselligkeit auf den zahllosen Bootshausparties zelebriert, so ungestört, so perfekt, so wild. Es wird nicht überraschen, dass sowohl mein erster amtlicher Kater als auch mein erster wilder Kuss in den Räumlichkeiten in Stadersand ihr Debut feierten. Im Rückblick und um die Erzählung zu vereinfachen, verorten wir beides auf die erste Jugendparty, die der Jugendwart zusammen mit anderen Vereinskamerad*innen auf die Beine gestellt hatte – diejenigen aus dem Verein, die sich nicht besonders bemühten, selber schnell alt zu werden. Rina, Johanne, Jack und ich – die vier „aktiven“ Jugendlichen durften groß einladen. Es vermischten sich Freundeskreise, Softdrinks mit Alkohol sowie diverser jugendlicher Speichel bis in den frühen Morgen. Es wurde ein Fest, wie es auch in „Sonnenallee“ nicht wilder hätte gezeichnet werden können.
Familie H. war es, die bei mir das erste aufkeimende Fernweh bediente. Frank und seine Eltern sind traditionell zu Himmelfahrt nach Zwartsluis nach Holland gefahren, um dort am „Kanovierdaagse“ teilzunehmen. Wieder war es Willi, der mit uns die Fahrt nach Holland bestritt und uns nebenbei noch beibrachte, wie man denn wohl vernünftig mit Karten navigiert und was sich für einen guten Beifahrer so gehört. Auf den holländischen Kanälen, Meeren und Flüssen ging es durch wahnsinnig flaches Land vorbei an wahnsinnig wahnsinnigen Schwänen, um gemütlich in Pfannkuchenhäusern mittags einzukehren. Gemütlich können sie, diese Vereinsmenschen – gar nicht schlecht!
Zusammen mit der jährlichen Pfingstfahrt waren diese langen Wochenenden echte Highlights des Jahres für mich, der Auftakt in die Sommersaison. Es waren auch die ersten Male, dass ich selbst dafür verantwortlich war, meinen Kram zu packen, um das Wochenende zu überleben. Sowohl meine Eltern als auch ich waren relativ sicher, dass es nicht zum Schlimmsten kommen würde.
Es waren ja schließlich auch immer VereinskameradInnen dabei, die das mit dem Erwachsenwerden für sich selber kaum abwarten konnten und schon eingreifen würden.
Im Laufe der Jahre habe ich mit dem Kajak viele Länder dieser Welt erkundet: Österreich, die Schweiz, Slowenien, Frankreich, Thailand, Norwegen, Dänemark, Schweden, die Niederlande, Wales, USA, Italien, Kroatien, Australien … Überall auf der Welt bietet mir das Paddeln eine andere Perspektive auf das Land, die Menschen und die Natur.
Wie sehr das Vereinsleben von den Menschen abhängt, die es gestalten, ist wieder so eine Sache, die mir im Nachhinein bewusst wird. Willi hat als Jugendwart die Latte ziemlich hoch gehängt. Er hat mir „dieses Vereinsleben“ von der Pike auf nahegebracht – Vereinsfahrten, Vereinsabende, Vereinsfeiern, Vereinsmei ….neee … so auch nicht. Ich habe in der Zeit mit Willi als Jugendwart gelernt, wie man geradeaus paddelt (Nichtpaddler verstehen nicht, dass das die eigentliche Kunst ist), das Stützen, das Rollen – ich habe gelernt mich im Bootshaus zurechtzufinden und wohlzufühlen.
Dann kam Axel – Axel hat als Jugendwart einen unkonventionelleren Approach gewählt. Mit Axel war ich das erste Mal bei Minusgraden auf Elbe und Schwinge paddeln und habe meine erste Sturmfahrt vor Drommel gemeistert. Ich habe angefangen, die Fühler immer weiter auszustrecken und immer mehr Spielarten eines unglaublich facettenreichen Sportes auszuprobieren: Spielboot fahren in Garstedt, Wildwasser in Hildesheim und auf der Oker im Harz, Seekajak paddeln in Dänemark, Kajaktouren auf unseren Kleinflüssen. Wir sind bei jedem Wetter gepaddelt und waren davon überzeugt, extrem gute Paddler zu sein – und wahrscheinlich haben wir das auch raushängen lassen. Wir haben Touren unternommen, die mit Sicherheit im Grenzbereich der Vernunft lagen und weit außerhalb dessen, was im restlichen Verein als sichere Praxis wahrgenommen wurde.
Zur Wahrheit gehört aber auch: wir haben Kajaksport gelebt, wir sind wahnsinnig viel gepaddelt. Wir haben uns sowohl theoretisch als auch in Übungen mit Sicherheitskonzepten auseinandergesetzt. Zu dieser Zeit mussten wir uns vor allem von den Vereinskameraden, die das Erwachsenwerden kaum abwarten konnten, oft anhören, dass wir bzw. Axel unverantwortlich waren, dass wir ein Wanderverein und kein Wildwasserverein seien und dass man bei den Bedingungen ja wohl nicht paddeln könne, solle, dürfe. Wir sind nicht müde geworden, unsere Aktionen mit einer gehörigen Portion Stolz und ebenso viel Trotz zu verteidigen – der Gegenwind war auch Antrieb – im Verein und auf dem Wasser
Nachdem Axel sein Amt abgegeben hat, um größere Schiffe zu fahren, habe ich den Posten des Jugendwartes übernommen. Den Bock zum Gärtner zu machen war selten eine gute Idee und so kam die Jugendarbeit weitestgehend zum Erliegen.
Der Kanuverein war für mich ein goldenes Ticket in eine wunderbare Abenteuerwelt. Viele Reisen, die ich unternehme, viele Sportarten, die ich ausprobiere und selbst das Auto, das ich heute mit meiner Familie fahre, sind beeinflusst von 25 Jahren Kanuverein Stade. Ich bin erwachsen geworden und es ist verrückt für mich, diesen Satz zu schreiben und zu lesen. Ich hatte es nie eilig erwachsen zu werden. Wenn ich heute in mein Kajak steige, fühlt es sich noch an wie vor 26 Jahren mit Papa auf der Müritz.
Ich habe eine Tochter – sie ist drei Jahre alt und ich wünsche ihr so sehr, dass sie auch so ein wildes, sicheres und geselliges Setting für ihre Coming of Age Geschichte findet. Ich denke mit einem Lächeln an die vielen lieben Menschen zurück, die mich im Verein begleiteten. Ich bin dankbar für Nachsicht und verdienten Anschiss, für Rückhalt und Toleranz. Ich bin dankbar für Freundschaft, die 25 Jahre, Seefahrerei, Auslandsaufenthalte und auch verletzte Gefühle überstand.
Heute ist der Kanuverein ein Anker für mich – viele Erinnerungen sind dort festgemacht. Ich kann immer wieder nach Stadersand zurückkehren, da bei der Bunkerstation … …. ihr wisst schon. Das nächste Abenteuer ist nur einen Paddelschlag entfernt.
Man muss echt mehr Boot fahren gehen …